SPD-Abgeordnete sagen Nein zum virtuellen Dorfkrug

Bramer: Im Dorfkrug
Im Dorfkrug. Leonaert Bramer (1596–1674), Öl auf Eichenholz. Katalog der nach 1939 verschollenen Kunstwerke der Polnischen Nationalgalerie Warschau.
Der Bundestag tut es, die Hamburger Bürgerschaft tut es, zahlreiche Kommunalparlamente tun es, sogar die kleine Gemeindeverwaltung in Geislingen an der Steige (26.841 Einwohner; 24 Abgeordnete) tut es: Ihren Abgeordneten eine virtuelle Sprechstunde auf dem unabhängigen online-Portal abgeordnetenwatch.de einrichten. Und somit Bürgernähe zu demonstrieren, wie sie zuletzt wohl im Dorfkrug stattgefunden hat.

In Bergedorf hatten die Fraktionen der Grünen, der Linken und der Piraten den Antrag gestellt, den Bezirksabgeordneten diese bürgernahe Plattform zu eröffnen und, vice versa, den Bürgerinnen und Bürgern mit Internetanschluss eine unzensierte und transparente Möglichkeit an die Hand zu geben, Fragen an ihre gewählten oder zukünftigen Volksvertreter zu richten. In der Abstimmung der Bezirksversammlung am letzten Freitag ist der Antrag an der mehrheitlichen Stimmgewalt der SPD-Fraktion gescheitert.

Der Antrag, vor der Sommerpause gestellt, war zuvor im Hauptausschuss debattiert und durch eine Präsentation [PDF] von Roman Ebener (Abgeordnetenwatch e.V.) am 12. Juli 2012 ausführlich ergänzt worden, wie das Protokoll ab Seite 6 festhält [PDF]. In der Debatte vor der Abstimmung in der Bezirksversammlung am vergangenen Freitag fand Paul Kleczsz, designierter Nachfolger von Werner Omniczinsky als SPD-Fraktionsvorsitzender in Bergedorf, die Plattform Abgeordnetenwatch zwar im Grundsatz gut und unterstützenswert, lehnte die Aufnahme des Bezirksparlaments jedoch ab. Weder sieht er einen besonderen Bedarf an dieser technischen Möglichkeit noch werde technisch ausreichend berücksichtigt, wenn einzelne Abgeordnete nicht wünschten, dort präsentiert zu werden. »Unsere Fraktion hat erhebliche Bauchschmerzen damit, dass man sich als Fraktion oder als einzelner dort nicht ausklinken kann. Einige von uns finden die Nachhaltigkeit der Fragen und Antworten, wie sie dann für jedermann einsehbar im Internet stehen, problematisch. Wir als Fraktion wollen aber Rücksicht darauf nehmen, dass die, die nicht an Abgeordnetenwatch teilnehmen wollen, es auch nicht müssen.«, erläutert Kleczsz die ablehnende Haltung der Bergedorfer SPD.

Mit ihrer ablehnenden Haltung steht die SPD-Mehrheit im Lokalparlament völlig allein; alle anderen Fraktionen zeigen sich ausgesprochen befremdet. CDU-Fraktionsgeschäftführter Kai-Uwe Inselmann bedauert den Ausgang der Entscheidung: »Wir waren für den Antrag. Die SPD im Bezirk hat geschlossen dagegen gestimmt, während sie sich in der Bürgerschaft an dem System beteiligt. Es ist schade, wir hätten damit bei den Hamburger Bezirken eine Vorreiterrolle haben können.« Jan Penz (Piratenpartei) spielt auf die Antiquiertheit der SPD-Politiker an: »Die SPD hat das System Abgeordnetenwatch wie auch das Internet und seine Möglichkeiten noch immer nicht begriffen. Und sie hat auch nicht begriffen, dass wir nicht mehr in den 1970ern leben. Die Anforderungen an eine Partei und vor allem deren Abgeordnete haben sich grundlegend geändert. Mit ihrem Nein entzieht sich die SPD einer modernen und niederschwelligen Methode der Beteiligung für die Bürger.«

Geradezu als peinlich empfindet Liesing Lühr (Bündnis 90/Die Grünen) die Haltung der SPD: »Bei allem Respekt für die persönliche Entscheidungsfreiheit wundere ich mich sehr über die Einstellung der SPD und halte sie nicht mehr für zeitgemäß. Die unterschiedlichen Möglichkeiten, mit den Bürgern zu kommunizieren, wurden gegeneinander gestellt und bewertet, als ginge es um ein Entweder - Oder! Peinlich. Es sollten alle guten Möglichkeiten genutzt werden, um es den BürgerInnen zu erleichtern, ihre Abgeodneten zu befragen - Abgeordnetenwatch halte ich für eine gute Möglichkeit in diesem Sinne, weil der Betreiber jahrelange Erfahrung in der Pflege und Betreuung der Seite hat. Und als Abgeordnete der BV erhalte ich zu Beginn der Legislatur eine IT-Pauschale von 1200 €, die genau für solche Ausgaben gedacht ist.«

Den Verweis der SPD auf die fraktionseigene Homepage mit Kontaktformular sowie die E-Mail, Telefon und persönliches Gespräch als ausreichende Kommunikationsmittel mag auch Stephan Jersch (Die Linke.) nicht gelten lassen: »Da wird eine Kommunikationsform künstlich gegen andere Formen gestellt. Ein ähnlich niedrigschwelliges UND parteiübergreifendes Angebot ist nirgends sonst vorhanden und könnte uns vielleicht sogar den ein oder anderen unterirdischem Kommentar in den bz-Onlinekommentaren ersparen. Meine persönliche Meinung ist, dass der Weg Bergedorfs in das Angebot von Abgeordnetenwatch dadurch nicht aufgehalten wird - er dauert nur länger und er wird für die BV ein passiver Weg sein.«

Banner Abgeordnetenwatch
Link zur Hamburger Bürgerschaft auf abgeordnetenwatch.de
Wie funktioniert Abgeordnetenwatch?
aus: www.abgeordnetenwatch.de/

»abgeordnetenwatch.de ist der direkte Draht von Bürgerinnen und Bürgern zu den Abgeordneten und Kandidierenden. "Bürger fragen - Politiker antworten" ist der Kern des Portals. Der öffentliche Dialog schafft Transparenz und sorgt für eine Verbindlichkeit in den Aussagen der Politiker. Denn alles ist auch Jahre später noch nachlesbar. Daneben werden auf abgeordnetenwatch.de das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten und ihre Nebentätigkeiten öffentlich.

2004 waren es zunächst die Hamburgerinnen und Hamburger, die ihre Abgeordneten in der Bürgerschaft auf abgeordnetenwatch.de öffentlich befragen konnten. Genau zwei Jahre später, am 8. Dezember 2006 ging abgeordnetenwatch.de für den Bundestag an den Start, im September 2008 folgte das Europaparlament. Von den Bundestagsabgeordneten und den deutschen EU-Parlamentariern haben sich bis zu den Wahlen 2009 gut 90 Prozent auf den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern eingelassen.

Abgeordnetenwatch ist Teilnehmer der »Initiative Transparente Zivilgesellschaft«. Betrieben wird das Portal von dem gemeinnützigen Parlamentwatch e.V., der sich vor allem durch einmalige und regelmäßige Spenden finanziert. Mit monatlich fast 400.000 Besucherinnen und Besuchern sowie gut 4 Mio. Seitenabrufen ist abgeordnetenwatch.de das größte politische Dialogportal Deutschlands.«

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