100 Flüchtlinge für Moorfleet [Update]

Bürgerdialog zur Flüchtlingsfrage in MoorfleeDas 500-Seelen-Dorf Moorfleet soll noch in diesem Winter 100 Flüchtlinge aufnehmen. Denn in Moorfleet gibt es ein leerstehendes Schulgebäude, das hierfür geeignet ist. Doch einige Moorfleeter finden das nicht gut und fordern die Verwaltung auf, einen anderen Ort für die Unterbringung zu finden. Auf jeden Fall, so die beiden federführenden Vereine AGM und SCVM, schulden Verwaltung und Politik den Anwohnern Erklärungen. Außerdem haben sie sich die Meinung der Moorfleeter anzuhören. »Mit uns kann man's ja machen! Wir kommen uns hier vor wie der Fußabtreter Hamburgs!«, entrüstete sich ein Einwohner gegenüber vierlaender.de.

Peter W. Voß, SPD-Mitglied, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Moorfleet (AGM) und frisch aus 3 Wochen Südsee-Urlaub zurück, hat gestern Verwaltungsvertreter zu der Informationsveranstaltung eingeladen, die Moorfleeter am 18. Dezember um 19:30 Uhr in ihrer Turnhalle neben der Schule (Sandwisch 66) anberaumt haben. Namentlich angeschrieben wurden Christiane Kreipe (BASFI), Bezirkamtsleiter Arne Dornquast und Dr. Rembert Vaerst von »fördern und wohnen«. Zugleich wurden die Vorsitzenden aller Bergedorfer Fraktionen von der Einladung in Kenntnis gesetzt. Voß schrieb: »Bevor die Bezirksversammlung am 19. bzw. am 20. Dezember hierüber entscheidet, sollen die Anwohner in geeigneter Form über die geplante Maßnahme informiert werden. Diese Form der Information / der Bürgerbeteiligung wird in anderen Bezirken von die Verwaltung organisiert. Da dies bisher auf diesem Wege nicht vorgesehen ist, hat die AGM deshalb ... zu einer Informationsveranstaltung eingeladen. (...) Wir gehen davon aus, dass die BASFI, der Betreiber Fördern und Wohnen und auch das Bezirksamt für Fragen der Anwohner zur Verfügung stehen.«

Die Hamburger Flüchtlingsbehörde BASFI muss in kurzer Zeit relativ viele Menschen unterbringen, die vor Krieg, Verfolgung und Tod auf der Flucht sind bzw. in Not geraten und obdachlos geworden sind. 400 von ihnen sollen bald in den Bezirk Bergedorf kommen; 300 eigentlich in die Rothenhauschaussee und 100 nach Moorfleet in die Schule. Über den Verbleib der 300 wird noch diskutiert, Moorfleet ist dagegen nach der Abstimmung im Hauptausschuss am 6. Dezember demokratischer Konsens in der Bergedorfer Politik. Diese Entscheidung war mit dem Votum der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen getroffen worden.

Kritik am SPD-Alleingang hagelte es prompt am nächsten Tag. Sven Noetzel, CDU-Fraktionsvorsitzender: »Hier hat die SPD eine große Chance vertan, eine Akzeptanz bei den Anwohnern zu schaffen. Wir wollen uns weiterhin nicht gegen eine öffentliche Unterbringung von Asylsuchenden stellen, aber vor einer Entscheidung haben alle Seiten das Recht, umfänglich informiert zu werden. Dies gilt vor allem, wenn hierdurch kein Zeitverlust entsteht. Mit unserer Auffassung befinden wir uns auch in guter Gesellschaft, denn erst vor kurzem hat SPD Innensenator Neumann zugesichert, dass die Bürger vor solchen Standortentscheidungen angemessen gehört werden.«

Jan Penz, Abgeordneter der Fraktion FDP/Piratenpartei: »Für die Unterbringung im Sandwisch konnte mir die Mitarbeiterin der Behörde gestern nicht zusichern, dass nach 2 Jahren dort wieder Schluss ist. Darum habe ich erklärt, für diese Fläche meine Zustimmung nicht zu geben. Wir bleiben jedenfalls bei unserer Forderung, statt Flächen zu suchen, die auf viele Jahre hinaus niemals eine neue Nutzung erfahren, besser begehrte Gewerbeflächen [auszuwählen], wo die Nutzung durch Container für die öffentliche Unterbringung von Beginn an begrenzt ist, da ein wirtschaftliches Interesse besteht, diese Fläche anders zu nutzen.«

Die Stimmung in Moorfleet spiegelt indes das folgende Schreiben wider, das die AGM unmittelbar nach Bekanntwerden der Planung und schon vor der Hauptausschusssitzung, am 4.12.2012 an den Bezirksamtsleiter schrieb:

Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern in Moorfleet

Sehr geehrter Herr Dornquast,

aus der Presse haben wir entnommen, dass die Hamburger Verwaltung Flächen und Örtlichkeiten sucht, um Flüchtlinge und Asylbewerber unterbringen zu können. Dabei ist auch die ehemalige Schule Moorfleet in der Straße Sandwisch in die Überlegungen einbezogen worden.

In der hiesigen Bevölkerung ist diese Nachricht mit großer Beunruhigung aufgenommen worden. Aus diesem Grunde wenden wir uns an Sie.

Uns ist die Lage der Stadt bewußt, Menschen ohne Unterkunft unterbringen zu müssen, und dies möglichst rasch. Wir sind keine Menschen, die sich den Nöten anderer verschließen. Über Jahre gab es z.B. ein gutes Einvernehmen mit den Elbe-Werkstätten, die die ehemalige Schule für Behinderte genutzt haben.
Wir haben jedoch bereits Erfahrungen mit der Unterbringung von Asylbewerbern in unserem Stadtteil. Über viele Jahre wurde das ehemalige Hotel Inter in der Halskestraße als Unterkunft genutzt. Leider war diese Zeit durch viele Polizei- und Feuerwehreinsätze gekennzeichnet, die in der Hamburger Innenbehörde bekannt sind. Das ehemalige Hotel war am Ende dieser Nutzung ein Totalsanierungsfall. Wir befürchten, dass diese Zustände wieder eintreten werden, dann allerdings direkt im Ortskern.

Der Stadtteil Moorfleet hat über viele Jahre viele Opfer für die gesamte Stadt Hamburg erbracht. Erwähnt seien Boehringer, Schlickhügel, Gewerbeflächen, U-4 Schlick-Verfüllung, BIG-Ansiedlung, Verkehrsbelastung etc.
Die Belastungen, die man einer Bevölkerung zumuten kann, haben in einer zivilisierten Gesellschaft auch Grenzen.

Aus diesen erlebten Erfahrungen bitten wir Sie eindringlich von der Nutzung der mitten im Ort befindlichen ehemaligen Schule als Wohnunterkunft abzusehen. Es gibt sicherlich im Bezirk Bergedorf wesentlich besser geeignete Standorte.

Mit freundlichen Grüßen
i.V. Martens


UPDATE 20.12.2012

Jule Monika Witt und André Herbst von der Bergedorfer Zeitung
berichteten gestern über die Info-Veranstaltung: »Bergedorf/Moorfleet. Der Bezirk will maximal 300 neue Plätze für Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber schaffen: 200 in einem weiteren Containerdorf am Curslacker Neuen Deich, 100 in der alten Schule Moorfleet. Bei den Moorfleetern schlagen die Emotionen hoch.«

Und unter der Überschrift "Den' geht es dann hier besser wie uns" berichtet Linn Vertein für die konkret: »Auf der „Infoveranstaltung“ der Hamburg-Moorfleeter Bürgerinitiative, die die Unterbringung von Asylbewerbern in ihrem Stadtteil zu verhindern sucht, gaben sich Ausländerfeinde und Rassisten ganz ungeniert. Die Lokalpresse spricht von engagierten und besorgten Bürgern.«

Zur Stunde (18 bis 22 Uhr) sitzt die Bezirksversammlung Bergedorf und muss zu einer Entscheidung kommen. Das »Zukünftiges Konzept zur Unterbringung von Zuwanderern – Öffentliche Unterbringung« [PDF] der SPD stellt auf paritätischere Verteilung der Zuwanderer auf alle Hamburger Bezirke in Zukunft ab, ein Aspekt, bei dem auch die taz kürzlich den Finger in die Wunde gelegt hat. Der Antrag der BAbg. Penz, Mohnike, Eichner und Fraktion der FDP/Piraten [PDF] beschränkt sich inhaltlich auf Moorfleet und fordert eine Verringerung der Anzahl der Unterzubringenden um die Hälfte auf 50.

UPDATE 31.12.2012

Über die Veranstaltung in der Moorfleeter Turnhalle berichtete das Freie Senderkombinat am 21.12.2012:
Lokalpresse spricht von engagierten und besorgten Bürgern

Dass die extreme Rechte in Moorfleet Morgenluft wittert, überrascht überhaupt nicht und fordert jeden anständigen Menschen zu höchster Wachsamkeit auf. Sie schreiben da ganz unverhohlen auf ihrer Heimseite: »Wir (...) werden die überfremdungskritischen Proteste in den Vier- und Marschlanden aufgreifen und dabei mithelfen, daß Moorfleet seine deutsche Identität bewahren kann.« (Zitat am 31.12.2012 abgerufen; Link verlegt)

Zum Verständnis dessen, was in Moorfleet aktuell abläuft, zur Mechanik von Fremdenangst und Fremdenhass (Rassismus), sei dieses Interview mit dem Ethnologen und Psychoanalytiker Mario Erdheim empfohlen. Er sagt darin: »Man muss deutlich unterscheiden. Nicht jede Form von Fremdenangst ist an sich schon rassistisch. Rassismus ist eine Ideologie, die spezifische biologische Unterschiede ins Zentrum stellt: die Farbe der Haut, die Form der Nase, die Beschaffenheit der Haare. Fremdenangst ist auf das Individuum bezogen, das ich nicht kenne. Rassismus dehnt die Fremdenangst auf eine ganze Kategorie von Menschen aus, die bestimmte gemeinsame gemeinsame körperliche Merkmale haben. Die werden als Fremde schlechthin definiert, denen man nie nahekommen wird, weil eine biologische Schranke zwischen ihnen und uns existiert.«

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