Ölindustrie versenkt fast 1 Million Kubikmeter Giftmüll unter Hamburger Wohngebiet

Oberflächlich unscheinbar: Flurstück 1619 am Sinstorfer Weg. Hier wird hochgiftiger Flüssigmüll in den Untergrund eingepresst.
Oberflächlich unscheinbar: Flurstück 1619 am Sinstorfer Weg. Hier wird hochgiftiger Flüssigmüll in den Untergrund eingepresst.
Schon seit 1995 wird in dem beschaulichen Hamburger Vorort Sinstorf gesundheitsgefährlicher Flüssigmüll, nämlich Lagerstättenwasser aus der niedersächsischen Erdölproduktion verklappt. Bis Ende August 2014 wurden hier, in der ehemaligen Erdölförderbohrung Groß-Hamburg-2 (GH2), 951187 Kubikmeter des Problemstoffes im Untergrund endgelagert, so der Hamburger Senat in seiner Antwort auf eine Schriftliche Kleine Anfrage[PDF] des Grünen Bürgerschaftsabgeordneten Jens Kerstan. Diese Maßnahme sei erforderlich, »um den Lagerstättendruck aufrecht zu erhalten«, gibt der Senat die Auskunft der Technokraten in den Bergbehörden weiter. Damit wird eine technische Notwendigkeit in den Vordergrund gestellt, die über einen möglichen Umweltskandal hinwegtäuscht. Nicht unumstritten ist die wasserrechtliche Zulassungsfähigkeit derartiger Bohrungen. Kritische Experten bezeichnen solche Einpressbohrungen wie in Sinstorf aus geochemischer Sicht als »tickende Zeitbomben«.

Die Antwort der Hamburger Regierung gibt erste Einblicke in die Entsorgung von hochgefährlichem Problemmüll mitten in einem Wohngebiet der Freien und Hansestadt. Sie gibt aber auch Einblick in die Haltung einer Landesregierung, der bestimmte Fragen offenkundig lästig sind und die ihre verfassungsgemäße Pflicht zu wahrheitsgemäßen und möglichst vollständigen Antworten - wieder einmal - nicht ernst genug nimmt.

Die Verwaltung des betroffenen Bezirks Harburg, der zeitgleich von den Linken Bezirksabgeordneten um Sabine Boeddinghaus auf den Zahn gefühlt worden war, zeigte sich ahnungslos [PDF]: Hier wusste man nichts über die Sondermüllverklappung im eigenen Hoheitsgebiet und fühlt sich somit auch nicht gehindert, aktuell den Bebauungsplan Sinstorf-22 in direkter Nachbarschaft der GH2 aufzustellen.

Umweltschützer aus Hamburg und Niedersachsen, die die Sondermüllverklappung erst vor Kurzem entdeckt und die beiden parlamentarischen Anfragen initiiert hatten, sind erstaunt über die Ignoranz, auch die Dreistigkeit von Behörden und Regierung, mit der kritischen Fragen nach der Zulässigkeit dieser Einpressbohrung und deren möglichen Gefährdung der Umwelt, der öffentlichen Infrastruktur und der menschlichen Gesundheit aus dem Weg gegangen wird.

Senat ignoriert Verfassungsauftrag und verweigert Antworten

Viele Fragen waren dem Senat anscheinend zu heikel, um sie so präzise zu beantworten, wie sie gestellt worden waren.

So wird nicht nur verschwiegen, wer im Jahre 1995 den Zulassungsantrag zum Umbau von GH2 zur »Einpressbohrung« gestellt und die Zulassung erhalten hat. Die Frage nach dem Frac-Gradienten des Einpresshorizonts, also ab welchem Einpressdruck Risse im Gestein entstehen, wurde ebenso nicht beantwortet.

Allerdings informiert der Senat in der Einleitung seiner Antwort: »Dabei ist GH 2 eine Bohrung, die in der Regel unter Unterdruck steht, wodurch die Bohrung das Lagerstättenwasser drucklos aufnimmt.« Was dabei »in der Regel« bedeutet und ob es sich hierbei auch heute noch um eine sog. Schlucksonde (s. Bundestagsdrucksache 12/4093) handelt, das lässt der Senat offen.

Infografik: Bohrung Groß-Hamburg-2: Jährliche und kumulierte Mengen von verklappten Abfällen der Ölindustrie
Bohrung Groß-Hamburg-2: Jährliche und kumulierte Mengen von verklappten Abfällen der Ölindustrie.
Auch die konkreten Fragen nach Inhaltsbeschränkungen der Zulassung - maximal zulässiger Kopfdruck, zulässiges jährliches Einpressvolumen und Geltungsdauer der Zulassung – ignoriert der Senat weitestgehend. Eine Beschränkung des Einpressvolumens scheint es nicht zu geben, denn: »Das jährliche Einpressvolumen ist durch das Volumen der Förderung an Nassöl (Erdöl und Lagerstättenwasser) begrenzt.« Diese Antwort bestätigt heute (9.9.14) auch das LBEG wörtlich und wiederholt, was es zuvor schon dem Hamburger Senat in die Feder diktiert hat: »Die Groß Hamburg 2 (GH 2) ist eine Einpressbohrung, die bei der Erdölförderung anfallendes Lagerstättenwasser wieder in die Lagerstätte zurück leitet. Dieser Vorgang ist zwingend notwendig, um eine Druckerhaltung in der Lagerstätte zu gewährleisten.«

So wurden seit 19 Jahren jährlich bis an die 97 Tausend Kubikmeter Giftmüll pro Jahr mitten in Sinstorf verklappt. Auf die Frage, wann die Bohrlochintegrität, also u. a. die Dichtigkeit der mittlerweile 54 Jahre alten Bohrung gegen austretende Gifte und Gase zuletzt überprüft wurde, antwortet der Senat wiederum ausweichend: »Die Drücke im Ringraum werden seitens des Betriebes regelmäßig im Rahmen der Befahrungen überwacht. Etwaige Abweichungen von Normalwerten der Bohrung werden der ständig besetzten Stelle elektronisch permanent übermittelt.« Offenkundig gibt sich der Senat mit derart nichtssagenden »Auskünften« seiner Fachbehörden zufrieden. Aufmerksame Umweltschützer und betroffene Anwohner dagegen dürften noch unruhiger werden. Es ist bekannt, dass je nach wissenschaftlicher Quelle bis zu 60 Prozent solcher Tiefbohrungen in den ersten wenigen Dekaden undicht werden und Schadstoffe sowie Gase nach oben, auch in nutzbare Grundwasserleiter aufsteigen können.

Vergleichbar wenig interessiert, eine substanzielle Auskunft zu geben, ist der Senat auch bei der Frage nach der chemischen Zusammensetzung des Flüssigmülls. Statt wie aufgefordert enthaltene Schadstoffe (z. B. Schwermetalle, Kohlenwasserstoffe, radioaktive Substanzen) aufzuführen, ergeht sich der Senat in einer völlig überflüssigen Belehrung darüber, dass Lagerstättenwasser solche Schadstoffe enthalten kann. Immerhin erklärt er, dass der Bergaufsicht keine Lagerstättenwasseranalyse vorliegt. Ob die zuführenden Lagerstättenwasserleitungen, die sich netzartig unter dem Wohngebiet in Sinstorf befinden, diesen unbekannten Anforderungen an ihre Dichtigkeit genügen, bleibt bislang im Dunkeln. Andernorts in Deutschland ist es bereits mehrfach zu unerwünschten Austritten von krebserregendem Benzol und Quecksilber aus alten Lagerstättenwasserleitungen gekommen.

Keine wasserrechtliche Erlaubnis

Für die Einpressbohrung GH2 gibt es keine wasserrechtliche Erlaubnis. Der Hamburger Senat hat damit kein Problem und schreibt der Landesbergbehörde von damals eine gesetzgeberische Kompetenz zu, die sogar das Bundesgesetz überwog: »... nach Prüfung der Antragsunterlagen durch das damals zuständige Bergamt Celle war eine wasserrechtliche Erlaubnis nicht erforderlich.«
Nach allgemeiner Rechtsauffassung stellen Bohrungen wie die GH2 wasserrechtlich bedeutsame Gewässerbenutzungen dar. Daher erfordert ihre Zulassung die Beteiligung der zuständigen Wasserbehörde und eventuell weiterer betroffener Träger öffentlicher Belange sowie eine wasserrechtliche Erlaubnis. Ohne diese könnte der Betrieb der GH2 als illegal vermutet werden.

Kein Monitoring, keine bekannten »Vorfälle«

Ein Grundwassermonitoring sei nicht nötig, meint der Senat, weil »Aufgrund der Sicherheitsmaßnahmen (Bohrlochintegrität, geologische Barrieren) (...) nach Auskunft des LBEG eine Verunreinigung auszuschließen« sei. Und für ein Luftmonitoring gebe es ebenfalls keine Notwendigkeit und auch keine Vorschrift, die das verlangt.
Daher kann der Senat auch ruhigen Gewissens angeben, dass keine Vorfälle von Luft- oder Grundwasserverschmutzung bekannt seien.


Ohnehin scheint sich der Senat sicher zu sein, dass von der Sondermüllverklappstelle Groß-Hamburg-2 keinerlei Gefahr ausgeht. Weder für die beiden Grundwasserwerke Bostelbek und Curslack, deren Einzugsgebiete von Westen bzw. von Osten bis etwa an die Bohrstelle GH2 heranreichen, noch für die Anwohner in Sinstorf. Einen Konflikt mit den Schutzvorschriften der einschlägigen Tiefbohrverordnung sieht der Senat nicht. »Die Zulässigkeit des Betriebes gemäß der BVOT – insbesondere auch der eingehaltenen Sicherheitsabstände – ist gegeben.« heißt es kurz und bündig und ohne Begründung in der Antwort.

Fazit

Fast eine Million Kubikmeter sehr salziges, schadstoffbelastetes Tiefenwasser - soviel, dass man damit das 47 Meter hohe Reichstagsgebäude in Berlin eineinhalb Mal bis zur Traufkante auffüllen könnte - und ungezählte unerwünschte Vorfälle an Ein- bzw. Verpressbohrungen, davon einige auch schon in Deutschland und dann solche Antworten, wie der Senat sie hier abgeliefert hat: Das zeugt nicht von einem Interesse der Hamburgischen Landesregierung an umweltrelevanten Vorgängen in der Erdölindustrie.

Die Chuzpe, mit der die Hamburger Großpolitik mit Naturschutz, Klimaschutz und Bürgernähe prahlt, ist mehr als ärgerlich. Die Gleichgültigkeit der Hamburger Landesregierung lässt im Hinblick auf möglicherweise kommende Aktivitäten von ExxonMobil im Erlaubnisgebiet Vierlande jedenfalls nichts Gutes ahnen.

Umweltschützer und Frackinggegner beiderseits der Hamburgisch-Niedersächsischen Landesgrenze bauen auf die Hamburgischen Bürgerschaftsabgeordneten, nicht locker zu lassen, von ihrem Fragerecht Gebrauch zu machen und den Senat auf seiner Antwortpflicht gemäß der Hamburgischen Verfassung (Art. 25 [PDF]) festzunageln.

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