Obduktion: Holger K. starb an Hypokrisia major
Geschrieben von Redaktion amEismorgen (hier am ehemaligen Bahnhof Berlin-Moabit). Wer jetzt keine warme Stube hat, muss frieren und vielleicht sterben.
Es kommt zu einer polizeilichen Untersuchung, wie immer, wenn nicht unter ärztlicher Aufsicht gestorben wurde. Oder wenn es nicht irgendein Obdachloser war, der sich unauffällig davongemacht hat. Wäre Herr K. nicht auf diese Weise in die ewigen Jagdgründe gegangen, es hätte wohl niemand auch nur ein Wort über seinen Tod verloren.
Aber Herr K. hat die Unverschämtheit besessen, vor aller Augen zu sterben. Mit seinem Abgang hat er ein Exempel statuiert, stilvoll sogar in der passenden Kulisse der frühsonntäglichen Bahnhofspassage: »Schaut her, ich lebte mitten unter Euch, aber Ihr habt nicht einmal soviel Menschlichkeit in Euch, mich in meiner Not zu beschützen.«
Doch dieser Satz kommt leise. Zu leise und, Hand auf Herz, auch viel zu unbequem und zu mahnend. Viel lauter, weil viel bequemer zu verstehen ist da das Ergebnis der Obduktion: Herr K. sei an seiner Erkrankung gestorben, Fremdeinwirkung werde derzeit ausgeschlossen. So jedenfalls wird der Polizeisprecher Andreas Schöpflin in der Bergedorfer Zeitung zitiert: »Im Zusammenhang mit dem Tod sehen wir derzeit keinen strafrechtlich relevanten Sachverhalt.«
In Hamburg leben laut offizieller Verlautbarung in diesem Winter rund 1000 Obdachlose. 350 Schlafplätze gebe es, so die selbe Quelle. Wo wärmen sich die übrigen 650, wo sterben sie? Und wieviele weitere Menschen sterben, weil sie, chronisch krank mit Parkinson, Multipler Sklerose, Epilepsie o. dgl. auf dem Weg zur Arbeit in den Schnee gefallen sind und allein nicht wieder hochkommen? Bekommen sie mehr als einen angewiderten Seitenblick von Passanten und den Satz: »Schlimm! Schon am frühen Morgen besoffen.« Unterlassene Hilfeleistung darf gar kein Straftatbestand sein, sonst gäbe es auf einen Schlag in Hamburg allein mindestens 650 potentielle Kläger.
Aber keine Angst vor solchen schweren Gedankengängen. Auch und gerade als gestandener Hypokrit kann man ja mal wieder in die Kirche gehen oder in die Moschee und die Absolution des Herrn erfahren. Und anschließend am Stammtisch und im Damenkränzchen über das »nutzlose Gesocks« und das »Geschmeiß« schwadronieren, das dem rechtschaffenen Bürger auf der Tasche liegt. Die Erkrankung des Herrn K. heißt Hypokrisia major größtmögliche Heuchelei der selbsternannten Gutmenschen, gnadenlose Vernachlässigung der Schwächsten in unserer wohlsituierten Gesellschaft. Die hat ihn umgebracht, und alle haben zugeschaut.
Statt wenigstens die Nummer zu wählen, die jedes Vorschulkind kennt: 110 oder 112.
Aber Herr K. hat die Unverschämtheit besessen, vor aller Augen zu sterben. Mit seinem Abgang hat er ein Exempel statuiert, stilvoll sogar in der passenden Kulisse der frühsonntäglichen Bahnhofspassage: »Schaut her, ich lebte mitten unter Euch, aber Ihr habt nicht einmal soviel Menschlichkeit in Euch, mich in meiner Not zu beschützen.«
Doch dieser Satz kommt leise. Zu leise und, Hand auf Herz, auch viel zu unbequem und zu mahnend. Viel lauter, weil viel bequemer zu verstehen ist da das Ergebnis der Obduktion: Herr K. sei an seiner Erkrankung gestorben, Fremdeinwirkung werde derzeit ausgeschlossen. So jedenfalls wird der Polizeisprecher Andreas Schöpflin in der Bergedorfer Zeitung zitiert: »Im Zusammenhang mit dem Tod sehen wir derzeit keinen strafrechtlich relevanten Sachverhalt.«
In Hamburg leben laut offizieller Verlautbarung in diesem Winter rund 1000 Obdachlose. 350 Schlafplätze gebe es, so die selbe Quelle. Wo wärmen sich die übrigen 650, wo sterben sie? Und wieviele weitere Menschen sterben, weil sie, chronisch krank mit Parkinson, Multipler Sklerose, Epilepsie o. dgl. auf dem Weg zur Arbeit in den Schnee gefallen sind und allein nicht wieder hochkommen? Bekommen sie mehr als einen angewiderten Seitenblick von Passanten und den Satz: »Schlimm! Schon am frühen Morgen besoffen.« Unterlassene Hilfeleistung darf gar kein Straftatbestand sein, sonst gäbe es auf einen Schlag in Hamburg allein mindestens 650 potentielle Kläger.
Aber keine Angst vor solchen schweren Gedankengängen. Auch und gerade als gestandener Hypokrit kann man ja mal wieder in die Kirche gehen oder in die Moschee und die Absolution des Herrn erfahren. Und anschließend am Stammtisch und im Damenkränzchen über das »nutzlose Gesocks« und das »Geschmeiß« schwadronieren, das dem rechtschaffenen Bürger auf der Tasche liegt. Die Erkrankung des Herrn K. heißt Hypokrisia major größtmögliche Heuchelei der selbsternannten Gutmenschen, gnadenlose Vernachlässigung der Schwächsten in unserer wohlsituierten Gesellschaft. Die hat ihn umgebracht, und alle haben zugeschaut.
Statt wenigstens die Nummer zu wählen, die jedes Vorschulkind kennt: 110 oder 112.
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Kommentare
Ansicht der Kommentare: Linear | VerschachteltAndrea Madadi am :
Herzliche Grüße
Andrea
Carin Schomann am :
Und dass es Unverstand war und nicht Kaltherzigkeit, das muessen wir annehmen -- in dubio pro reo --, solange die Untersuchungen nichts anderes herausbringen.